Immagini della pagina
PDF
ePub
[blocks in formation]

- bis dahin aus dem Stegreif gesungenen Discantus schriftlich festzustellen, indem man Note gegen Note (punctum contra punctum) fchrieb, woraus sich der, nachmals mit so viel spisfindiger Gelehrsamkeit ausgebildete Kontrapunkt entwickelte, eine Bezeichnung, die sich ursprünglich gar nicht auf den Inhalt und Charakter der Composition, sondern lediglich auf die äußere Schreibweise bezog.

Sollte aber der Discantus den kanonischen Gesang wirklich in harmonischer Weise begleiten, so kam es nicht bloß auf die richtigen Intervalle an, sondern der Discantist mußte auch genau die Zeit wissen, in welcher der Cantus firmus von einem Tone zum anderen fortschritt, um sich mit seinen Gesangfiguren danach richten zu können. 1) Auch hierin war gewiß die Praxis weit älter, als die Theorie, und gewandte Discantisten mögen lange vorher, von ihrem musikalischen Gehör richtig geleitet, sich mit ihren improvifirten Figuren dem fanonischen Gesange sehr gut angeschmiegt haben, ehe irgend ein Theoretiker bestimmtere Regeln über das Zeitmaß oder die Mensur der Töne aufstellte.

Indeß wurden auch solche Theorien schon ziemlich früh versucht, und Franco v. Cöln, ein Deutscher (nach der herkömmlichen Angabe um 1050-1083) 2), war, wie er selbst sagt, keinesweges der erste Schriftsteller über den Mensuralgesang," wohl aber derjenige, welcher, mit weiser Benugung seiner Vorgänger, die erste richtige Mensuraltheorie aufstellte. Dies Verdienst spricht ihm ein alter, von Burney angeführter Autor 3) zu, indem er von der Musik jener Zeit sagt: ,,Sie war damals nicht menfurirt, sondern bildete sich erst allmälig dazu heran bis zur Zeit Franco's, welcher der erste zuverlässige Theoretiker für die Mensuralmusik war."

Er unterschied, während die Metriker nur einen Unterschied zwischen langen und kurzen Silben machten, längste (maximas), lange (longas), furze (breves), und halbkurze (semibreves), und verschaffte somit durch seine Theorie einer, von den Grammatikern mit Unrecht den Musikern lange Zeit streitig gemachten Behauptung die gebührende Geltung. Denn schon der Grammatiker Marius Victorinus) erwähnt,,,daß zwischen den Metrikern und Musikern über

1) Wie sorglos man in dieser Beziehung war, mag daraus hervorgehen daß Peter Venerabilis, Abt zu Elügny (1122–1156), festseßen mußte: Alle im Chore follten gleichzeitig pausiren, und sich erholen," da vorher die Einen längst fertig waren, während die Anderen noch fortsangen, und noch an der vorhergehenden Berszeile zu singen hatten, während die Ersteren schon die folgende begannen; vergl. Marier Biblioth. Clun. 1355, 1462.

2) Kiesewetter seht ihn, und wie es scheint mit größerem Rechte, in die erste Hälfte des XIII. Jahrhunderts, wonach der Benedictinermönch Walth. Odington v. Evesham (1240) sein Zeitgenosse und nächster Nachfolger in der Lehre von der Mensur wäre.

3) Burney. Gesch. d. Mus. II. p. 182. Non enim erat musica tunc mensurata, sed paullatim crescebat ad mensuram usque ad tempus Franconis, qui erat musicae mensurabilis primus auctor approbatus.

4) Vergl. Putsch. Gramm. lat. p. 2412. Inter Metricos et Musicos propter spatia temporum, quae syllabis comprehenduntur, non parva

33*

[blocks in formation]

das Zeitmaß der einzelnen Silben ein nicht geringer Streit sei, indem die Musiker behaupteten, daß nicht alle langen Silben gleich lang, und nicht alle kurzen gleich kurz wären, sondern daß eine kurze Silbe kürzer, und eine lange länger werden könne, als die andere. Der Benedictinermönch Odington unterschied von der Semibrevis noch die Minima (das kürzeste Zeitmaß), und von seiner Zeit an war also, nach unserer Weise zu reden, schon der Unterschied von ganzen, halben, Viertel-, Achtel- und Sechzehntheilnoten vorhanden.

Wie bei den Metrikern, so galt auch bei den Musikern lange Zeit hindurch die Longa so viel als 2 Breves, die Brevis so viel als 2 Semibreves c. Aber es kamen (nämlich bei Melodien im dreitheiligen Takte) auch Fälle vor, in denen das rhythmische Gefühl für den als Semibrevis bezeichneten Ton das Zeitmaß von 3 Minimen verlangte, und man unterschied demnach eine prolatio major (wenn sie 3 Minimen) und eine prolatio minor (wenn sie 2 Minimen galt). Ganz ebenso war es mit dem Verhältniß der Brevis zur Semibrevis; aber die pedantische Umständlichkeit jener Zeit wagte es nicht, auch hier denselben Ausdruck zu gebrauchen, sondern man sprach hier von einem tempus perfectum, wenn die Brevis 3 Semibreves, und von einem tempus imperfectum, wenn fie nur 2 Semibreves galt. Für das Verhältniß der Longa zur Brevis endlich brauchte man wieder einen neuen Ausdruck, und unterschied den modus major, wenn die Longa 3 Breves, und den modus minor, wenn sie 2 Breves galt.

Diese und andere Weitläuftigkeiten brachten nun in das Mensuralwesen eine so gründliche Confusion, daß es langwieriger und mühseliger Studien bedurfte, ehe man sich in dem Wirrwarr von Formeln und Regeln nur einigermaßen zurechtfinden lernte. Dafür waren aber auch diejenigen, welche alle Regeln der Mensuraltheorie und Punktirkunst vollkommen inne hatten, als Meister der Tonkunst hochberühmt, und Schaaren von lernbegierigen Schülern wallfahrteten zu ihnen. Auf Wohlklang freilich waren ihre Compositionen nicht berechnet. War der Cantus firmus in das Notenliniensystem eingetragen, so punktirten fie über und unter demselben mit pedantisch-zierlicher Symmetrie; stieg die eine Stimme aufwärts, so mußte die andere entweder in gleicher Weise aufwärts, oder eben so viel Töne abwärts steigen, und hatte die eine Stimme sich in einer krausen Figur versucht, so mußte die zweite dasselbe Kunststück in derselben oder in umgekehrter Weise versuchen. Wie das Ganze klang was fragte der alte, gelehrte Meister nach dem Urtheile der Laien, die nur etwas Schönklingendes hören wollten, von der Kunst aber nichts verstanden. An dem Beifall der Kenner lag ihm, und nach ihrem einstimmigen Urtheile war die Composition vortrefflich, wenn alle Regeln der Akkorden- und Menfurtheorie genau beobachtet waren.

dissensio est. Nam Musici non omnes inter se longas aut breves pari mensura consistere, siquidem et brevi breviorem, longa longiorem dicant posse syllabam fieri.

Fugen.

Motetten.

517

Besonders gern componirte man Musikstücke, in denen die eine Stimme vorauseilte, der eine zweite nachjagte, die wiederum von einer dritten verfolgt wurde, der man eine vierte nachschickte, welche wieder von der ersten verfolgt ward. Diese verschiedenen Stimmen verfolgten und flohen nun einander in den mannigfaltigsten Windungen und Ausweichungen, bis sie endlich, müde und mattgeheßt, sich am Schlusse zusammenfanden; und da solche Compofitionen in der That ein anschauliches Bild von dem Jagdtreiben (fuga, im mittelalterlichen Latein) waren, so wurden sie sehr passend "Fugen" genannt.

Natürlich mußte bei diesen, wie bei allen Compositionen, in denen die Stimmen nicht gleichmäßig fortschritten, der Text beim Eintritt jeder neuen Stimme von Neuem wiederholt werden, und die Worte durchkreuzten sich das ganze Stück hindurch ebenso wunderlich, wie die Töne. Daher war ein längerer zusammenhängender Text zu solchen Compofitionen nicht brauchbar, und man wählte lieber ein einzelnes Wort, wie,, Amen" oder „Hallelujah" oder einen kurzen biblischen Spruch, bei den Franzosen mot genannt, wovon das Musikstück selbst Moteta (Motette) hieß. 1)

In Rom hatte sich inzwischen der alte Gregorianische Unisonogefang fort und fort in seiner Reinheit und Einfachheit erhalten, und erst seit der Zeit, als die Päpste von dem König Philipp IV. von Frankreich und seinen Nachfolgern gezwungen worden waren, in Avignon zu residiren (1308-1378), lernte man durch Niederländer, Deutsche und Franzosen den extemporirten Discantus kennen, bei dem es aber allerdings oft bunt genug hergehen mochte, so daß es nicht gerade als ein Zeichen von zelotischer Geschmacklosigkeit anzusehen ist, wenn der Papst Johann XXII. (1322) den Figuralgesang mit dem Bannfluch belegte. Auch Agrippa v. Nettesheim (ft. 1535) beklagt sich noch mit bitterem Spotte über das wüste Gewirr der Stimmen, das die Andacht nur stören, nimmer fördern könne; und wenn der Kardinal Capranica dem Papst Nikolaus V. (1328), als dieset ihn nach der Aufführung eines kontrapunktistischen Musikstückes in der päpstlichen Kapelle um sein Urtheil befragte, zur Antwort gab: ,,Mich dunkt, ich höre eine Heerde Schweine, die mit aller Gewalt grunzen, ohne einen artikulirten Laut oder ein Wort hervorzubringen," so war das zwar nicht artig, aber vielleicht um so wahrer.

Gleichwohl konnte das Eifern gegen den Figuralgesang denselben nicht unterdrücken, und Guilelmus Dufay, ein Niederländer (1380 bis 1432), der Erste, welcher schriftlich aufgezeichnete, kontrapunktische Compositionen in die römische Kapelle einführte, fand weit mehr Beifall, als Widerspruch, theils, weil man sich nach und nach an diese Musik mehr gewöhnt hatte, theils, weil sie durch den rastlosen Fleiß der damaligen Tonkünstler schon bei weitem beffer geworden war. Beson

1) Wenn Luther und seine Zeitgenossen sie Mutete nannten, so leiteten sie effenbar den Namen von mutare ab, und dachten dabei an die Mutationen, welche die begleitenden Stimmen mit der Grundmelodie der Hauptstimme vornahmen.

518

Luthers Ansicht über die Kirchenmusik.

ders zeichneten sich in der Vervollkommnung derselben die Niederländer aus, namentlich Jan Odiegham, Jakob Hobrecht (der Lehrer des Erasmus) und vor Allen Josquin de Pres (Jodocus Pratensis, um 1440), der das große Verdienst hatte, in das ver= wirrte Mensuralwesen seiner Zeit größere Ordnung und Klarheit zu bringen, und die Einführung des neueren Taktwesens vorzubereiten.

Einen der entscheidendsten Schritte that aber auch auf diesem Gebiete der große Luther, indem er den, unter dem Schutt kontra= punktischer Künsteleien fast begrabenen Gregorianischen Cantus firmus in einer neuen, dem Bedürfniß der Zeit angemessenen Form wiederum ans Licht brachte, und dem Volke als bleibendes Eigenthum sicherte. Im Chorale der evangelischen Kirche, den die Gemeine einstimmig sang, während die Sänger auf dem Chor, und späterhin die Orgel, ihn in mehrstimmiger Harmonie begleiteten, vereinigte sich die Würde des alten Unisonogesanges mit der Anmuth der neueren Harmoniefülle. Mit bräutlichem Entzücken schmiegte sich das muthwillige, aber anmu= thige Kind der Weltlust, die Harmonie, sinniger und andächtiger geworden, an den ernsten Mann, den Cantus firmus, und vergaß in seinem Anschauen die vormaligen kindischen Tändeleien, und der bisher strenge und schroffe Mann schaute mit freundlicher Würde auf die Braut herab, und lächelte.

Aus dieser Vereinigung des Cantus firmus mit der Harmonie ging die Motette, wie Luther sie kannte und liebte, hervor, „wo um ein fromm Tenor (cantus firmus) die anderen hüpfen und svielen, als die fröhlichen Kinder um den Vater." 1) Denn die von Walther und Senfl componirten Motetten waren nichts anderes, als choralartige Melodien der Hauptstimme mit fugirter Begleitung der anderen Stimmen, die aber nunmehr würdevoller und doch zugleich anmuthiger war, als vordem. 2)

1) Man vergl. seine (1538 zu Wittenberg geschriebene) Lobrede auf die Musik, in der es unter andern heißt: Wo aber die natürliche Musica durch die Kunst geschärft und polirt wird, da sicbet und erkennet man erst mit großer Verwunderung die große und vollkommene Weisheit Gottes in seinem wunderbarlichen Werke der Musica, in welcher vor Allem das seltsam und zu verwundern ist, daß einer die schlechte Weise oder Tenor (wie es die Musici heißen) hersingt, neben welcher drei, vier oder fünf andere Stimmen auch gesungen werden, die um solche schlechte Weise oder Tenor gleich als mit Jauchzen rings herum spielen und springen, und mit mancherlei Art und Klang dieselbige Weise wunderbarlich zieren und schmücken, und gleich wie einen himmlischen Tanzreigen führen, freundlich einander begegnen, und sich herzen und lieblich umfangen, also, daß diejenigen, so solches ein wenig verstehen, und dadurch bewegt werden, sich deß heftig verwundern müssen, und mei nen, daß nichts Seltsameres in der Welt sei, denn ein solcher Gesang mit viel Stimmen geschmückt. Wer aber dazu keine Lust und Liebe hat, und durch solch lieblich Wunderwerk nicht bewegt wird, das muß wahrlich ein grober Kloß sein, der nicht werth ist, das er solche liebliche Musica, sondern das wüste, wilde Eselsgeschrei des Chorals, oder der Hunde oder Säue Gesang und Musica höre.“

2) Wie kunstreich der Sah war, beweisen die in v. Winterfeld's oben erwähntem Werke über den evangelischen Choralgesang mitgetheilten Proben. So bearbeitete z. B. Ludwig Senfi 1544 die alte, aus dem XII. Jahrhundert stam

Aeltere protestantische Kirchenmusik.

519

Als Tonseher der damaligen Zeit sind neben Walther und Senfl insbesondere zu nennen:

Heinrich Fink, von welchem 1536 eine Sammlung geistlicher und weltlicher Lieder (für 4 Stimmen) erschien.

Georg Rhaw (ft. 1548), der bei Gelegenheit der Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck, zum Anfang eine 12stimmige Meffe, und am Schluß ein Te Deum aufführte, und sich in seinen Tonsägen durch kunstreiche und originelle Behandlung auszeichnet. So macht er z. B. in seiner Bearbeitung des Liedes: „Ein feste Burg ist unser Gott,“ um auf den unerschütterlich festen Grund hinzudeuten, auf dem die Sache der Evangelischen ruhe, den Baß zur Melodie führenden Stimme.

Martin Agricola (ft. 1556) und Balthasar Resinarius (1544), deren Stimmführung ebenso geschickt, als einfach ist; Gleiches gilt von dem Tonsaß des Sixt Dietrich (um 1540), während Benedict Ducis (um 1538) bei der kunstreichen Führung der einzelnen Stimmen immer darauf bedacht ist, sie zu einer schönen Harmonie zu vereinigen, und besonders die harmonische Bedeutung der Grundtonart hervortreten zu lassen. Eine mehr motettenartige Be-. handlung charakterisirt den Tonsaß des Lupus Hellinck (um 1550), und würdig schließen sich ihm an: Thomas Stolzer (um 1520), Kapellmeister des Königs Ludwig von Ungarn, und Georg Forster (ft. 1587), Stephan Mahu (um 1560) und Johann Kugelmann, Kapellmeister des Herzogs Albrecht von Preußen (1540), von welchem die Melodie und der Saß der Lieder: Nun lobt mein Seel den Herrn," und ,,Allein Gott in der Höh sei Ehr" herrühren.

Aber nicht bloß auf die Kirchenmusik der Protestanten, auch auf die der Katholiken hatte das Zeitalter der Reformation einen günstigen Einfluß. Die Versuche, den evangelischen Choralgesang auch bei den katholischen Gemeinen einzuführen, mißlangen freilich - wahrscheinlich waren sie auch nie ernstlich genug gemeint, indem man der Würde der Kirche etwas zu vergeben fürchtete, wenn man den Kezern etwas nachthat aber von eben den Chören, auf denen vormals die Sänger lustig und verworren durcheinander geschrieen hatten, hallten nunmehr großartig einfache Harmonien herab. Der Florentiner Costanzo Festa (nach Burney's 1) Urtheil der größte Kontrapunktist vor Paleftrina), der 1517 als Sänger in die päpstliche Kapelle eintrat (er ft. 1545), war der Erfte, der nach dem Vorbilde niederländischer und deutscher Meister, mit seinen einfachen und ergreifenden 4stimmigen Vocalcompositionen auf das hohe Ziel hinwies, das Palestrina erreichte, und noch heutzutage wird bei der Papstwahl, bei der Uebergabe des rothen Hutes an neugewählte Kardinäle und am Frohnleichnamsfest,

mende Melodie: „Christ ist erstanden," für 5 Stimmen (Sopr. I. u. II., Alt 1. II. III. u. Bass) in der Weise, daß die 3., 4. und 5. Stimme drei verschiedene Melodien neben einander durchführen. Noch kunstreicher ist die (1564 erschienene) Bearbeitung des ,,Veni sancte Spiritus“ für 8 Stimmen (Sopr. I. II. III., Alt I. II., Ten. I. II. u. Bass).

1) Gesch. d. Mus. Thl. 3, S. 244.

« IndietroContinua »