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640 Moralische Interpretation. Dr. Paulus.

seien, und wenn er den praktischen Theologen die moralische Interpretation anempfahl, so war dies nur ein wohlgemeinter Vorschlag für diejenigen, welche zu gleicher Zeit mit ihm philosophiren wollten, und dem Bolke nach der Bibel predigen sollten. Diese wies er năm lich auf das Beispiel der griechischen und römischen Moralphilosophen hin, welche die abenteuerlichsten Götterfabeln zu bewältigen, und so zu deuten gewußt hätten, daß sie vernunftgemäße moralische Lehren enthielten; ebenso müsse es der christliche Prediger machen; er müsse dem Volke seine Bibel laffen, sie ihm aber so zu deuten wissen, daß fie mit den allgemeinen praktischen Geseßen der Vernunftreligion zusammenstimme.

Die Theologen, welche ihrerseits die grammatisch-historische Interpretation nicht gern aufgeben wollten, erinnerten dagegen, daß eine solche moralische Interpretation doch nicht eigentlich für eine Auslegung, sondern nur für eine praktische Anwendung des Tertes gelten könne; der Königsberger Philosoph antwortete jedoch sehr trocken: er behaupte ja nicht, daß die biblischen Schriften so gedeutet werden müßten, sondern nur, daß sie so gedeutet werden könnten, und dies machte den Verfasser eines Auffages in Augufti's theologischer Monatsschrift 1802. 2. Heft, S. 109: „Warum ist die moralische Interpretation der Bibel unnöthig?" so ärgerlich, daß er erklärte: die Kantische Interpretation sei ein bloßer Nothbehelf; man solle dem Volke lieber rund heraussagen, daß unser Zeitalter eine ganz andere Bibel bedürfe.

Das war aber doch zu viel! und Dr. Paulus hatte daher, noch ehe es zu solchen Geständnissen kam, in seinem (von 1800 an erschienenen) Evangelien - Commentare es nochmals versucht, die Bibel mit den Anforderungen der ,,denkgläubigen Vernunft" in Einklang zu Denn bringen, um wenigstens sie noch den Rationalisten zu retten. einerseits achtete er die Autorität derselben zu sehr, als daß er sie ganz hätte wollen fallen lassen andererseits war er fest überzeugt, daß es immer nur an den Erklärern gelegen habe, wenn sie bisher den Denkgläubigen so vielen Anstoß gegeben hätte. Alles Anstößige, meinte er, verschwinde, sobald man nur Factum und Urtheil überall gehörig unterscheide. Die biblischen Schriftsteller nämlich seien zu wenig objectiv" gewesen, um den Thatbestand an und für sich rein darzustellen, sondern haben ihn in der Regel so berichtet, wie er ihnen bei ihrer mangelhaften, und durch allerlei Vorurtheile getrübten Einsicht erschienen sei; daher komme es zuvörderft darauf an, die Berichte von jenen subjectiven Beimischungen zu säubern, und die historischen Facta in ihrer Reinheit darzustellen. Thue man aber dies, so werde man in Beziehung auf das Neue Testament unfehlbar finden, das Jesus zwar nicht der Sohn Gottes im kirchlich-dogmatischen Sinne, wohl aber ein weiser und tugendhafter Mensch gewesen sei, dessen Thaten nicht Wunder, sondern Werke der Menschenliebe, der ärztlichen Geschicklichkeit oder des begünstigenden Zufalls waren.

Wie vielen Dank sich aber auch er, und der nach seinem Vorgange und fast gleichzeitig mit ihm arbeitende Venturini (Verfaffer der natürlichen Geschichte des großen Propheten von Nazareth")

Nationalistische Kritik der Bibel.

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damit zu verdienen hofften, daß in der Bibel nunmehr Alles hübsch natürlich zuging, und die Wunder nebst allem Uebrigen, was sonst dem denkgläubigen Leser anstößig sein konnte, glücklich beseitigt waren, so fanden doch viele diese Art, das Anstößige zu beseitigen, selbst sehr anstößig, und da sie mit Recht fürchteten, daß sie bei gleicher Anerkennung der Bibel einerseits, und bei gleicher Wunderscheu andererseits, zu denselben Resultaten kommen würden, so hielten sie es für das Gerathenste, die objectiven Facta mit den subjectiven Urtheilen ganz auf sich beruhen zu lassen, und der Privatmeinung jedes Einzelnen anheim zu stellen. Wunder, meinten fie, seien immer nur äußere Facta, und könnten, wären sie auch noch so beglaubigt, nie für die Wahrheit einer Lehre etwas beweisen; Hauptsache sei und bleibe für uns das, was Jesus und die Apostel gelehrt haben; dies müffe so gründlich, als möglich, erforscht werden.

Und nun begann wiederum eine lange Reihe grammatisch - historischer und historisch-kritischer Untersuchungen, theils über die ursprüngliche Gestalt des biblischen Tertes, theils über die Echtheit oder Unechtheit ganzer Bücher oder einzelner Theile derselben. Der Schreck, den der Kantische Kriticismus dem Rationalismus in seiner bisherigen Form eingejagt hatte, war vergessen, und man frohlockte wiederum laut, als man entdeckt hatte, daß die zweite Hälfte des Jesajas (K. 40—66) nicht vom Verfasser der ersten herrühre. Denn wer sich nun noch auf die Weissagung vom leidenden Messias (K. 53) berufen wollte, der wurde ganz kurz mit der Antwort abgefertigt:,,dies Kapitel ist unecht." Daß dies eigentlich den Stand der Dinge gar nicht änderte, indem es bei der Frage, ob jenes Kapitel als Weissagung auf Christum zu beziehen sei, vollkommen gleichgültig war, ob der, welcher es schrieb, Jesajas oder anders hieß, wollte man sich nicht erst die Zeit nehmen, zu bedenken. Den Meisten war vielmehr von alten Zeiten her immer noch so viel Achtung vor der Glaubwürdigkeit der biblischen Schriftsteller geblieben, daß ihnen „Unechtheit“ ziemlich gleichbedeutend klang mit Unzuverlässigkeit," und daher sparte man auch keine Mühe, der biblischen Bücher so viele, als möglich, kritisch zu verdächtigen, verfuhr aber dabei im Ganzen ziemlich planlos.

Nach Gutdünken seßten z. B. die Kritiker des Matthäus - Evangelii die Zuverlässigkeit der anderen Evangelien voraus, und folgerten aus den Differenzen, die sie bei der Vergleichung fanden, daß jenes von keinem Augenzeugen herrühren könne. Bei der Himmelfahrt dagegen bemerkte man wiederum, wie zweifelhaft fie verbürgt sei, da die beiden wirklichen Jünger Matthäus und Johannes ganz über sie schwiegen, und nur zwei Apostelschüler Markus und Lukas, die keine Augenzeugen gewesen seien, ihrer Erwähnung thäten. Für die Beurtheilung der drei ersten Evangelien galt das des Johannes als entscheidendes Regulativ, und betrachtete man wiederum dieses genauer, so fand man die Unwahrscheinlichkeit, daß ein ungebildeter galiläischer Fischer ein so spiritualistisches Evangelium geschrieben haben sollte, so groß, daß man die Echtheit lieber dahingestellt sein lassen, als behaupten wollte. Beriefen sich die Vertheidiger der Lehre von der Erbsünde und der Rechtfertigung auf unzweifelhaft echte Aussprüche des Apostels Paulus, so

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Der Rationalismus auf der Kanzel.

entgegnete man, daß dies die individuellen Ansichten eines Schülers seien, nicht die Lehre des Meisters, und wiesen Jene auf verwandte Aussprüche Jesu in den Evangelien hin, so wurde wiederum erinnert, daß man ja nicht die eigenen Worte des Meisters vor sich habe, sondern nur das, was die Evangelisten ihm in den Mund legen.

So durchkreuzten sich die rationalistischen Theologen in dem buntesten Durcheinander. Was der Eine heut als unhaltbar wegwarf, das benußte morgen ein Anderer als Grundlage, um einen neuen Angriff zu machen, und was er errungen zu haben hoffte, ward wiederum von einem Dritten verworfen.

Erst Röhr und Wegscheider brachten in diese Verwirrung einiges Licht, indem sie sich freimüthiger über das Verhältniß des Ra= tionalismus zur Bibel- und Kirchenlehre erklärten. Die Bibel lehrt dies, die Kirche lehrt das,,,das Richtige ist Folgendes" dies war das Schema, nach dem Wegscheider alle einzelnen Glaubensartikel behandelte; und diese Behandlungsweise machte es allerdings sehr anschaulich, daß der Rationalismus mit dem Bibelglauben nicht viel mehr, als jene alte Naturalisten-Trinität,,Gott, Tugend und Unsterblichkeit“ gemein habe.

Indessen fand man es immer noch bedenklich, auf der Kanzel so frei und unumwunden zu sprechen, als es der docirende Professor im Collegium gethan hatte; und wie klar dieser seinen Zuhörern auch darzuthun suchte, daß kein Mensch in der Welt Recht habe, als er allein, so erinnerte gleichwohl er selbst, oder der Profeffor der praktischen Theologie im fünften oder sechsten Semester die Studenten, daß fie jene Schäße der wissenschaftlichen Forschung einstweilen für sich behalten sollten; das Volk hänge noch zu sehr an dem alten Kirchenglauben, und die wahre Lehrweisheit bestehe eben darin, daß man die schwachen Gewiffen schone, und die blöden Augen nur allmälig an das Licht der Aufklärung gewöhne. - Die Stubirenden hatten demnach eine doppelte Bibelerklärung zu erlernen, die eine für sich, als wissenschaftlichgebildete Theologen, die andere für das Predigtamt, das in Zukunft fie und ihre Familie ernähren sollte, und der Predigerstand war unter solchen Umständen allerdings ein sehr schwerer Stand, weshalb auch Mancher, der bei der Offenheit und Geradheit seines Charakters fich nicht dazu entschließen konnte, ein Amt zu bekleiden, bei dem er das, was er glaubte, verschweigen, und das, was er für Irrthum hielt, lehren mußte, oft gegen den Wunsch und Willen der Eltern, das Studium der Theologie aufgab, und ein anderes wählte. Andere jedoch hofften, der kategorische Imperativ: „du kannst, denn du sollft" werde, wenn sie nur einmal im Amte wären, seine Wirksamkeit auch bei ihnen äußern, und die inzwischen durch vielfältige Bearbeitungen immer mehr populär gewordene Kantische Moralphilosophie sezte sie, wenn sie eine Predigerstelle erhalten hatten, auch wirklich in den Stand, über die Lugend höchft erbaulich zu predigen. Sie sagten abwechselnd,,,Christus“ oder das Christenthum," wo Kant,,praktische Vernunft" gesagt hatte, und die Zuhörer waren bei diesem einfachen Manövre ganz entzückt über die streng christlichen und dabei doch so verständigen und klaren Predigten."

Supranaturalismus. Schleiermacher.

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Inzwischen haben sich aber auch die Gegner des Nationalismus seit den lezten Decennien mehr und mehr gesammelt. Der allgemein geachtete Dr. Frz. Volkm. Reinhard hatte 1810 in seinen „Geständnissen" erklärt: Nur der Supranaturalismus sei ein consequentes System, der Rationalismus inconsequent; und Littmann in einer Schrift über Supranaturalismus, Rationalismus und Atheismus (fie erschien 1816, ein Jahr später, als die Wegscheider'sche Dogmatik) darzuthun versucht, daß der Rationalismus, consequent durchgeführt, zum Atheismus führe."

Vergebens war Kähler's Wort zur Beruhigung für Alle, welche nicht wissen, ob sie glaubend erkennen, oder erkennend glauben sollen" (Leipzig 1818), und beide Parteien lachten, wenn er vermittelnd erklärte: der Supranaturalismus habe zum Zweck, das, was über die Vernunft ist, insoweit es durch äußerliche Erscheinung, und namentlich im Evangelium klar geworden ist, der Nationalismus aber daffelbe, inwiefern es sich innerlich der Vernunft als nothwendige ursprüngliche Wahrheit darstellt, zu zeigen oder zu beweisen; die höhere Einheit beider aber bestehe im Leben, in der Kraft, in der Wahrheit durch Heiligung, in der Duldung durch Liebe, oder im inneren, Christo nachgebildeten und durch ihn ins Leben gerufenen neuen Geifte." Zu dergleichen Friedensvermittelungen war keine Zeit mehr. Es handelte sich nicht mehr um die Pflicht einer gegenseitigen Duldung in chriftlicher Liebe, sondern um das Recht der wissenschaftlichen Existenz, da dem Nationalismus nicht mehr eine alterschwache Matrone (die vormalige Orthodoxie), sondern ihr jugendlich kräftiger Sohn (der Supranaturalismus) gegenüberstand, der mit den Waffen der Wiffenschaft zu streiten wußte, und fest entschloffen war, das Erbtheil seiner Mutter bis aufs Aeußerste zu vertheidigen.

Immer ernstlicher ist in neuerer Zeit das Streben geworden, den chriftlichen Glauben in seiner Uebereinstimmung mit den Anforderungen der Wissenschaft darzustellen, und wenn Schleiermacher i) in seiner Christologie auch nicht ganz gelöst hat, was er zu lösen vermeinte, so ist doch das Streben, statt der rein negativen Resultate der rationalistischen Kritik etwas Positives festzustellen und wissenschaftlich zu rechtfertigen, höchst anerkennungswerth.

3hm zufolge ist sich nämlich der Christ, als Glied der christlichen Gemeine, der Aufhebung seiner Sündhaftigkeit bewußt, und fühlt den Einfluß eines sündlosen und vollkommenen Principes auf sich, welches das Gottesbewußtsein in ihm kräftigt, den Kampf gegen die Sinnlichteit erleichtert, ihn frei werden läßt von der Knechtschaft der Sünde, und durch das lebendige Gefühl der Gemeinschaft mit Gott, troß aller äußeren Widerwärtigkeiten, sich im Innersten feines Herzens selig fühlen läßt. Dies Princip, das der christlichen Gemeinschaft wirklich und wesentlich inwohnt, kann nun kein anderes sein, als der Stifter dieser Gemeinschaft Christus, und da man aus dem, was er wirkt, zurückzuschließen berechtigt ist auf das, was er gewesen ist, so ergiebt fich 1) aus der Kräftigung unsers Gottesbewußtseins, daß es in ihm

1) Bergl. Schleiermacher's Glaubenslehre 2. Theil, § 92 ff.

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Schleiermacher.

De Wette.

in absoluter Kräftigkeit gewesen (oder, wie die Kirche sagt: daß Gott in Christo Mensch geworden) ist; 2) aus der, durch ihn bewirkten, immer vollständigeren Ueberwindung der Sinnlichkeit und Befreiung von der Sünde, daß in ihm die Sinnlichkeit vollständig überwunden, und er seiner Natur nach durchaus sündlos war; 3) aus dem, in der Gemeinschaft mit ihm, immer lebendiger und deutlicher werdenden inneren Gefühle der Seligkeit, daß er mit Recht als Versöhner und Seligmacher dargestellt wird. Allerdings ist aber zwischen dem, aus dem christlichen Gefühle construirten, urbildlichen Christus Schleiermacher's und dem historischen Christus immer noch Raum genug zu bedenklichen Zweifeln, ob der leßtere wirklich dem von Schleiermacher construirten entsprach, ob nicht vielleicht ein von einer Menge einzelner, und sich wechselseitig ergänzender Erscheinungen abstrahirtes Ideal auf die einzelne historische Person Jesu Chrifti übergetragen sein könne, und ob es endlich denkbar sei, daß das Urbildliche jemals in einem historischen Individuum zur Wirklichkeit gekommen sein sollte. Am schlimmsten jedoch war es, daß Schleiermacher, weil er die Thatsachen der Auferstehung und Himmelfahrt aus dem christlich-religiösen Gefühle nicht herausconftruiren konnte, sich zu der Behauptung genöthigt sah, daß Auferstehung und Himmelfahrt nicht wesentlich zum christlichen Glauben gehörten, worin jedenfalls das Eingeständniß enthalten war, daß diese Christologie ihre Aufgabe, den Kirchenglauben in seiner Uebereinstimmung mit der Wissenschaft nachzuweisen, nicht ganz zu lösen vermochte.

Ebenso wenig löste de Wette dieselbe, wenn er die evangelische Geschichte symbolisch auffaßte, in dem Leben des, in stetem Hinblick auf seinen himmlischen Vater wirkenden Jesus die Idee der Andacht, in dem am Kreuze hängenden Chriftus ein Symbol der durch Aufopferung geläuterten Menschheit, in der Auferstehung ein Bild des Sieges der Wahrheit, und in der Himmelfahrt das Symbol des einstigen Triumphes und der ewigen Herrlichkeit der Religion fand. - Denn mit dieser Theorie konnte sich weder der kirchlich-christliche Glaube, noch die Wissenschaft zufrieden geben. Jener begehrt statt leerer Ideale und Symbole einen Christus, der wirklich gelebt, und die sündige Menschheit mit Gott versöhnt hat, und diese erklärt, daß Jdeen, wenn sie ein bloßes Sollen ausdrücken, dem kein Sein entspricht, sich durch sich selbst aufheben, und daß sich von dem Menschen nicht verlangen läßt, fich mit Gott versöhnt zu wiffen und göttlichen Sinnes zu werden, wenn diese Versöhnung und Vereinigung nicht an sich schon vollbracht ist.

Auch die Hegel'sche Philosophie beschäftigte sich angelegentlich mit der Lösung dieses Problems, und die Hegelianer glaubten sich die allgemeine Zustimmung versprechen zu dürfen, wenn fie folgende Säße aufstellten:

1) Wenn Gott als Geist zu denken ist, so sind, da auch der Mensch Geist ist, beide an sich nicht verschieden, und da es das wesentliche Merkmal des Geistes ist, in der Unterscheidung seiner selbst von sich, identisch mit sich zu bleiben, so ist es dem unendlichen göttlichen Geiste ebenso wesentlich eigenthümlich, sich den endlichen Geistern zu erschließen (Offenbarung), als dem endlichen Menschengeiste,

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