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DEUTSCHES ALTERTHUM UND DEUTSCHE
DEUTSCHE LITTERATUR

IX, 1 JANUAR 1883

Otfrids Evangelienbuch herausgegeben und erklärt von OSKAR ERDMANN (Germanistische handbibliothek herausgegeben von JULIUS ZACHER band v). Halle a/S., Waisenhaus, 1882. VIII und LXXVII und 493 ss. 8°. 10 m.*

Otfrids Evangelienbuch herausgegeben von OSKAR ERDMANN. textabdruck mit quellenangaben und wörterbuch (Sammlung germanistischer hilfsmittel für den praktischen studienzweck 1). Halle a/S., Waisenhaus, 1882. VIII und 311 ss. 8o.- 3 m.

Kaum irgendwo macht sich die in unserer disciplin grassierende überproduction dermafsen bemerklich wie bei Otfrid. nachdem vor vier jahren Piper mit einer ausgabe hervorgetreten war, hat er dieselbe neuerdings in anderem verlage für den halben preis ohne weitere veränderungen, als dass die bibliographie fortgesetzt und eine reihe von erratis gebessert ist, nochmals auf den markt geworfen, und gleichzeitig einen textabdruck veranstaltet, welchem ein kurzes wörterbuch' bald nachfolgen wird. jetzt bietet uns Erdmann zwei ausgaben, eine grofse und eine kleine, und in der Altdeutschen textbibliothek steht eine bearbeitung von Kögel zu erwarten. zum überfluss soll gar, nachdem eben erst Kelles Glossar glücklich unter dach gebracht ist, in nächster zeit die welt mit einem zweiten Otfridwb. beschenkt werden! man wird sich und anderen doch nicht einreden wollen dass Otfrid ein schriftsteller sei, dem das interesse des nichtfachmännischen publicums sich je in erheblichem grade zuwenden könne? wozu also diese sintflut von ausgaben und diese vergeudung von arbeitskraft?

Dennoch kann Erdmanns ausgaben, in sonderheit seiner gröfseren, die berechtigung nicht bestritten werden. Otfrids Evangelienbuch ist eine hochwichtige quelle unserer kenntnis der ahd. sprache und noch mehr der metrik; an ihm lässt sich aber auch in vorzüglicher weise die kunst der interpretation üben. darum besitzt das denkmal hervorragende bedeutung sowol für die forschung wie für die unterweisung. der gelehrte bedarf eines zuverlässigen textes mit vollständigem apparat, dem lernenden kann ein wolfeiler abdruck erwünscht erscheinen, obwol unsere altdeutschen chrestomathien, namentlich das Lesebuch von Braune, ge

* vgl. Litt. centralblatt 1882 nr 20. DLZ 1882 nr 27 (JKelle).

A. F. D. A. IX.

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1

rade aus Otfrid proben in hülle und fülle enthalten. für das fachwissenschaftliche bedürfnis würde an sich zwar Kelles ausgabe auch heute noch ausreichen; da aber deren basis von Piper in frage gestellt war, so tat erneute prüfung der hss. und ihres verhältnisses not. dieser aufgabe unterzog sich Erdmann in seiner academischen schrift Über die Wiener und Heidelberger hs. des Otfrid, Berlin 1880, in welcher er Pipers hypothesen, hoffentlich für immer, zurückwies. dass er dann seinen resultaten durch eine edition allgemeinere anerkennung sichern wollte, war durchaus berechtigt, ja notwendig, damit wider eine zuverlässige grundlage des Otfridstudiums existiere.

Drängte dergestalt die wissenschaftliche bewegung der letzten jahre auf eine neue ausgabe des Evangelienbuches hin, so würden wir dieselbe mit uneingeschränktem danke entgegen genommen haben, wenn sie zugleich eine abschliefsende in dem sinne gewesen wäre, dass sie alle vorhandenen überflüssig gemacht hätte. leider erfährt dieser wunsch keine erfüllung: weder Kelles noch Pipers buch wird man neben Erdmanns werke entbehren können, weil dasselbe die lesarten des Frisingensis nur vereinzelt mitteilt, weil ihm ferner eine bibliographie fehlt und weil die schilderung von Otfrids leben ganz summarisch auf grund namentlich der forschungen Kelles abgetan wird. wahrscheinlich trägt der plan der Germanistischen handbibliothek mit seinem zwitterhaften character an dieser selbstbescheidung schuld, obwol doch hier ebenso gut von ihm hätte abgegangen werden können, wie bei Sievers Heliand, der gerade durch die emancipation von den grundsätzen des unternehmens das lob einer völlig befriedigenden und vorläufig abschliefsenden leistung sich erworben hat.

Hier also wäre einmal mehr besser gewesen. aber wir sollen uicht ungenügsam sein: was Erdmann gibt, ist gut. seine ausgabe wird von jedem, der Otfrid gründlich verstehen lernen will, studiert werden müssen. man merkt es dem buche überall an dass es nicht von gestern zu heute geschrieben, sondern aus langer und liebevoller beschäftigung mit dem schriftsteller erwachsen ist. eine eigenschaft desselben erkenne ich besonders an: es zeugt, auch da wo es irre geht, stets von nachdenken. das kann man durchaus nicht allen neueren producten des germanistischen büchermarktes nachrühmen.

Die einleitung zerfällt in zwei hauptteile. der erste, umfänglichere handelt eingehend von den hss. und führt den inhalt der oben erwähnten academischen schrift weiter aus 1, der zweite

1 damit sich jedermann von dem unterschiede der hände in V und P sowie davon, dass die beiden schreiber von P nicht mit denen von V identisch sind, überzeugen könne, hat Erdmann 4 photographische tafeln anfertigen lassen, welche à 1 m. verkäuflich sind (vgl. Zs. f. d. ph. 13, 501). sie enthalten die gleichen stellen (V 30'. 144. P 30. 188') wie die facsimiledrucke nr 1. 3. 4. 5 der academischen abhandlung.

beschäftigt sich mit Otfrids person, seinem werke und dessen würdigung. als recht beachtenswert hebe ich den versuch hervor, die einzelnen phasen der entstehung des Evangelienbuches zu skizzieren: Erdmann unterscheidet zwischen 1) frühesten versuchen, 2) der allmählich durchgeführten ausarbeitung des gedichtes, 3) selbständigen zur ausfüllung und abrundung des ganzen eingefügten abschnitten und 4) zusätzen bei der schlussredaction; diese stadien nimmt er an auf grund einer reihe den sprachgebrauch, reim, versbau, das verhältnis zur quelle usw. betreffender observationen, welche in den anmerkungen niedergelegt sind. bekanntlich hatte Lachmann das erste buch und die letzten capitel des fünften als die ältesten teile angesehen, und ihm hatte sich, wenn auch im einzelnen weiter gehend, Piper angeschlossen. Erdmanns hypothese, namentlich die einleuchtende annahme von ersten versuchen, verdient jedesfalls genaueste prüfung, welche eine gründliche behandlung der Otfridschen technik zur voraussetzung hat.

Es folgt der text mit den sämmtlichen varianten von VDP, ausgewählten von F, solchen nämlich, welche für die auffassung und geschichte des Otfridtextes wertvoll' erschienen; darunter stehen die quellenbelege und verweisungen auf die entsprechenden abschnitte der Tatianschen evangelienharmonie und des Heliand. den schluss bildet der commentar, welcher 164 seiten compressen satzes einnimmt. dass er hinter statt unter dem texte des Evangelienbuches sich befindet, hat die drucklegung ebenso erleichtert, wie es jetzt die benutzung erschwert. der wert des commentars, auf welchem in dieser ausgabe das hauptgewicht ruht, besteht in sonderheit darin, dass Erdmann es sich hat angelegen sein lassen, seine meinung über jede ihm irgendwie schwierig oder mehrdeutig erscheinende stelle auszusprechen; nur selten bleibt man über seine ansicht im ungewissen. alle weitere Otfridinterpretation muss von ihm ausgehen, und ich bezweifle nicht dass sie wesentlich durch ihn angeregt werden wird. denn nunmehr ist ein fester grund gelegt: man weifs in jedem falle, wie ein gründlicher kenner Otfrids diesen oder jenen vers erklärt, und es kann sich also eine fruchtbare discussion, bald zustimmend, bald bestreitend, entspinnen, und im laufe der zeit volles verständnis erzielt werden. aber in einem puncte hätte ich den commentar anders gewünscht: Erdmann setzt sich zu wenig mit seinen vorgängern, namentlich mit Piper, aus einander. es ist weder bei ihm regel dass er Piper anführt, wo er mit diesem übereinstimmt, noch wo er von ihm abweicht. Pipers erklärungen sind sehr häufig schief, falsch, ja unmöglich, aber in manchen fällen hat er doch auch Erdmann gegenüber das richtige getroffen, wie einige beispiele weiter unten zeigen können. ich habe nicht Erdmanns und Pipers erläuterungen neben einander gelesen, sondern die des letzteren nur stellenweise beigezogen,

und ich glaube daher dass Erdmann öfter als ich bemerkte ohne grund sich zu Piper in opposition gesetzt hat. jedesfalls aber hätte er seinen lesern die mühe ersparen können, überall Pipers buch nachzuschlagen, und ein vollständiges repertorium der bisherigen Otfriderklärung bieten sollen.manche der anmerkungen bringen parallelstellen aus der geistlichen dichtung der nächstfolgenden jahrhunderte bei. sie wollen den beweis führen dass Otfrids dichtung lange nachgewürkt habe. ich stehe dieser tendenz ebenso skeptisch gegenüber wie dem bestreben, das Evangelienbuch zu einem für die zeit seiner entstehung epoche machenden litteraturdenkmal zu stempeln. denn was beweist der gleichmässige gebrauch von giwago Otfr. 1 3, 37 Iro dágo ward givágo fon alten wizagon und Melker Marienl. 6, 1 Ysayas der wissage der habet din gewage oder die wendung Otfr. 1 16, 23 Thaz kind wuahs untar mánnon, so lilia untar thórnon und Melker Marienl. A, 6 si ist under den anderen so lilium undern dornen: der vergleich sicut lilium inter spinas, sic amica mea inter filias Cant. 2, 2 war wol jedem geistlichen dichter geläufig. ebenso wenig ergeben die congruenzen mit der Wiener Genesis, dem Pilatus, der Siebenzahl; noch am ehesten möchten die parallelen aus dem Friedberger christ und antichrist frappieren.

An einer grofsen zahl von stellen kann, wie ich glaube, der Erdmannschen auffassung eine andere mit gleichem oder gröfserem rechte gegenüber gestellt werden. einige derselben mögen im folgenden besprochen werden.

11, 81 f Nist liut, thaz es biginne, thaz widar in ringe; in éigun sie iz firméinit, mit wáfanon gizéinit und iv 27, 5 f Ih wéis, sie thaz ouh woltun, mit súntigon nan záltun, mit then wurti ouh firméinit, so alt giscrip uns zéinit. an der ersteren stelle nimmt Erdmann firmeinen als 'gründlich mitteilen, ganz klar machen', an der anderen als 'rechnen', indem er sich auf das marginale et cum iniquis deputatus est beruft. aber dies ist durch mit súntigon nan záltun widergegeben, und ein ahd. firmeinen kennen wir nur in der bedeutung von 'profanare' und 'perjurare' (Parab. 30, 9), also abgeleitet von mein scelus; dahin hat denn auch Graff 1782 unsere stellen mit recht verwiesen. man wird somit als grundbedeutung die von 'schänden' anzusetzen haben: 11, 82 'sie haben es ihnen geschändet' 'sie haben es ihnen wider

wärtig gemacht.'

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I 1, 87 Lás ich iu in alawár in einen búachon (ih weis wár): Kelle und Erdmann erklären war als 'wahrheit'; aber selbst für Otfrid scheint mir doch die häufung von in alawar und war etwas stark. ich habe war an dieser stelle niemals anders genommen als hwar, wo, und diese auffassung dünkt mich auch jetzt noch die einfachste.

I 1, 94 ni si thie sie zugun héime: keine der in der anm. angeführten stellen beweist die bedeutung 'leiten einer schar' (vgl.

herizoho) für ziahan, alle erklären sich ausreichend, wenn man das verbum mit 'heranziehen, lehren' widergibt.

I 17, 5 Tho drúhtin krist gibóran ward, thes méra ih sagen nu ni tharf: die zweite halbzeile deutet nach Erdmann die auslassung der geographischen und chronologischen daten des bibeltextes an (dh. in Bethlehem Juda in diebus Herodis). diese auslegung ist gesucht, der wortlaut besagt nichts weiter als: 'wovon ich jetzt nichts mehr zu erzählen brauche (da ich nämlich darüber früher berichtet habe).'

II 5,9 Niazan sah er (der teufel) inan (Adam) tház, thaz imo ju gisuás was: Erdmann schwankt, ob hier das paradies als sitz der himmlischen seligkeit, an der auch der teufel vor seinem falle anteil hatte, oder als sitz aller schönsten güter der erde bezeichnet werden solle. man muss sich doch wol für die erste alternative entscheiden, da vor dem falle des teufels von der erde und ihren gütern noch keine rede sein konnte, sie ihm also auch nicht gisuds waren.

I 14, 9f Ther evangélio thar quit, theiz mohti wesan séxta zit; theist dages héizesta joh árabeito meista. Erdmann will heizesta nicht auf zit femininisch beziehen sondern als substantiviertes neutrum fassen, indem er sich auf iv 33, 9f beruft: Thaz was in álawara fon séxtu unz in nóna, thaz scolta in thoh in war mín thes dages líohtosta sin. aber auch dort ist aus ziti v. 8 zit zu supplieren.

и 16, 21 ff Iu ist sálida giméinit, in thiu ir herza réinaz eigit; ir sculut mit súlichen óugon selbon drúhtin scowon; Ir scúlut io thes gigáhen, mit súlichų íuih náhen, mit réinidon ginuagen zi drúhtine iuih fúagen. die worte mit súlichen óugon übersetzte Piper 'mit diesen euren augen, so wie ihr sie habt' und verwies auf den text der bergpredigt ipsi deum videbunt, ohne zu bedenken dass in der Vulgata das pronomen ipse bei den meisten seligpreisungen gebraucht wird, um das subject wider in erinnerung zu bringen. auch Erdmann schliefst sich dieser erklärung Pipers an, wiewol nicht mit voller bestimmtheit. ich bin überzeugt dass súlichen ebenso auf das vorhergehende réinaz sich zurück bezieht, wie súlichu auf das folgende réinidon voraus deutet, also súlichen óugon reinen óugon.

I 21,37 Ni firláze unsih thin wara in thes widarwerten fára, widergabe der sechsten bitte. ich verstehe nicht, weshalb Erdmann die schlussworte erklären will 'bei der nachstellung des teufels'; vielmehr hat firlazan die bedeutung von 'tradere' wie an der ganz analogen stelle u 11, 61 Ni firliaz sih krist in wára in thero liuto fara, welche von Erdmann richtig aufgefasst ist.

III 1, 15 ff er míh ouh hiar giréine, fon éitere joh fon wúnton: fon minen suaren súnton. In in irhuggu ih léwes léides filu séres; ríuzit mir thaz herza, thaz dúat mir iro smérza. Erdmann übersetzt 17 f: 'bei ihnen, dh. durch ihr (der leidenden 13. 15')

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