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I. Allgemeine Fassung des Laplace'schen Wahr

scheinlichkeitsbegriffes.

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1. In dem berühmten Philosophischen Versuch über die Wahrscheinlichkeiten" 1) führt Laplace den Begriff mit folgenden Worten ein: „Die von einem Luft- oder Dampfteilchen beschriebene krumme Linie ist ebenso gesetzlich bestimmt wie die Planetenbahnen, mit dem einzigen Unterschied, dass wir ihr Gesetz nicht kennen. Die Wahrscheinlichkeit hängt teils von dieser Unwissenheit, teils von unseren Kenntnissen ab. Zuweilen wissen wir, dass sich von drei oder mehr Begebenheiten Eine ereignen wird, und doch ist kein Grund vorhanden, dass wir glauben sollten, die eine werde sich wahrscheinlicher zutragen als die andere.... Die Theorie des Zufalls besteht darin, alle gleichartigen Begebenheiten auf eine gewisse Anzahl möglicher Fälle zurückzuführen, d. h. solcher Fälle, über deren Dasein (existence) wir in gleicher Unwissenheit sind, und dann die Anzahl der Fälle zu bestimmen, welche für die Begebenheit, deren Wahrscheinlichkeit man sucht, günstig sind. Das Verhältnis dieser Zahl zur Anzahl aller möglichen Fälle bildet das Mass dieser Wahrscheinlichkeit, die (das?) nichts anderes ist als ein Bruch, dessen Zähler die Zahl der günstigen und dessen Nenner die Zahl aller möglichen Fälle angibt."

Wir werden zunächst den Begriff der mathematischen Wahrscheinlichkeit, wie er Laplace vorschwebte, mit Beseitigung gewisser Ungenauigkeiten und unnötiger Beschränkungen formuliren, die darin liegenden erkenntnistheoretischen Consequenzen hervorziehen und sie gegen einige weitverbreitete Misverständnisse und Einwendungen verteidigen. Im nächsten Abschnitt besprechen wir Angriffe und Umformungen, welche die Grundlagen selbst betreffen.

1) Zuerst erschienen 1814 als Einleitung zur zweiten Auflage der „Théorie analytique des Probabilités“.

Es liegt zu Tage, dass sich eine Ungenauigkeit eingeschlichen hat, wenn Laplace die sog. gleich möglichen Fälle, die in den Begriff der Wahrscheinlichkeit eingehen, als solche definirt, bei denen man keinen Grund hat, die eine für wahrscheinlicher zu halten als die andere. Man darf nicht in die Definition des Wahrscheinlichen den Begriff des Wahrscheinlicheren einführen. 1) Die Meinung von Laplace ist denn auch vollkommen ausgedrückt, wenn wir sagen: Gleich möglich sind Fälle, in Bezug auf welche wir uns in gleicher Unwissenheit befinden. Und da die Unwissenheit nur dann ihrem Masse nach gleich gesetzt werden kann, wenn wir absolut Nichts darüber wissen, welcher von den unterscheidbaren Fällen eintreten wird, so können wir noch bestimmter diese Erklärung dafür einsetzen.

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1

N

Soviel allerdings ist richtig, dass gleichmögliche Fälle immer auch gleichwahrscheinlich sind, nämlich jeder bei N gleichmöglichen Fällen. Aber die gleiche Wahrscheinlichkeit ist erst die Folge der gleichen Möglichkeit. Es haben ja auch gleiche Summen gleichmöglicher Fälle untereinander gleiche Wahrscheinlichkeit. Zuerst also muss die Gleichmöglichkeit erkannt sein.

Der Ausdruck günstige Fälle" (chances favorables, Bernoulli's casus fertiles seu foecundi gegenüber den casus steriles), auch kurzweg Chancen, bedeutet im Sinne der Definition nicht etwa Umstände oder Bedingungen, welche

1) Seltsamer Weise findet sich die nämliche Wendung noch bis in die neueste Zeit. Wenn man wahrscheinlicher" hier im Sinne des sog. Philosophisch-Wahrscheinlicheren nehmen wollte, wäre nicht geholfen. Denn es liegt der philosophischen" und der mathematischen, d. h. der nicht (oder nicht genau) messbaren und der messbaren, Wahrscheinlichkeit doch ein gemeinsamer Begriff zu Grunde. Ueberdies wäre es ja thatsächlich schon eine Messung, wenn wir die eine Begebenheit nicht wahrscheinlicher als die andere nennen: wir würden eben die Wahrscheinlichkeiten gleich gross setzen.

dem Ereignis günstig sind, d. h. welche (im Verein mit den sonstigen Bedingungen) es herbeiführen werden, sondern vielmehr diejenigen unter den möglichen Fällen selbst, unter welche wir das bezügliche Ereignis logisch subsumiren müssen; z. B. wenn nach der Wahrscheinlichkeit eines Pasches gefragt ist, die Fälle 1 und 1", „2 und 2" u. s. f. unter den 36, über deren jeden wir uns in Unwissenheit gegenüber den anderen befinden. Diese 36 bilden die sämmtlichen untersten Arten des Gattungsbegriffes eine mit 2 Würfeln zu werfende Zahlencombination"; und von diesen untersten Arten fallen 6 unter den nächsthöheren Artbegriff Pasch".1)

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In gewissen später (IV.) zu erwähnenden Fällen werden unter den Chancen in der That reale Umstände verstanden,

1) A. Meyer's vielbenützte „Vorlesungen über Wahrscheinlichkeitsrechnung“ (deutsch v. Czuber 1879) beginnen folgendermassen: Jedes Ereignis ist die Folge eines Zusammenwirkens zweier Arten von Umständen; die einen, bekannt oder unbekannt, sind notwendig zu seiner Hervorbringung, während die anderen, stets unbekannten, nur zufällig dazu beitragen. Die Umstände der ersteren Art nennt man Ursachen oder Chancen des Ereignisses; die anderen in ihrer Gesammtheit bilden das was man als Zufall bezeichnet." Später wird freilich bemerkt (S. 8-9), dass das Wort Ursache in der Wahrscheinlichkeitslehre etwas anderes als sonst bedeute: „nicht das, was einen Erfolg oder ein Ereignis herbeiführt" (wie man allerdings nach jener Erklärung denken sollte) „sondern das was einem Ereignis die ihm eigentümliche Wahrscheinlichkeit erteilt. Es sind dies die Chancen des Ereignisses an und für sich". Abgesehen davon, dass dies gleich anfangs hätte gesagt werden müssen, ist die neue Erklärung auch nicht sonderlich deutlich. Was erteilt dem Ereignis seine eigentümliche Wahrscheinlichkeit? Wir drehen uns im Kreise.

Uebrigens legen auch Mathematiker, die die Chancen durch Ursachen definiren, bei der Aufstellung des Summenprincips alsbald doch unseren obigen Begriff zu Grunde. Beim Pasch sollen die günstigen Fälle summirt werden: man meint hier offenbar nicht die Ursachen, die einen Pasch herbeiführen, sondern einfach die Arten des Ereignisses selbst, die Fälle, welche unter jenen Begriff gehören.

und zwar diejenigen, auf denen die Anzahl der möglichen und günstigen Fälle (Chancen im vorigen Sinne) beruht; wie wenn wir sagen, die Chancen eines Ereignisses haben sich verändert. Der Begriff ist, wie man sieht, auf den vorigen zurückzuführen; es ist aber zur Klarheit nötig, die doppelte Bedeutung des Wortes auseinanderzuhalten. läufig haben wir es nur mit der ersten zu thun.

Vor

2. Eine Frage von hervorragender Wichtigkeit betrifft das Zeitmoment in der Wahrscheinlichkeitsdefinition.

Es lag in der Natur der concreten Aufgaben, aus denen die Wahrscheinlichkeitsrechnung erwuchs, dass dabei immer von zukünftigen Begebenheiten die Rede war. Die möglichen und die günstigen Fälle betrafen den Ausgang von Spielen. Wir sehen diese Bezugnahme auf Künftiges auch an der Art, wie Laplace den Wahrscheinlichkeitsbegriff einführt. Aber wenn man sie in die Definition hereinnehmen wollte, würde eine unnötige und durch nichts gerechtfertigte Beschränkung entstehen. Wir nennen es offenbar in demselben Sinne wahrscheinlich, dass die Zahl 4 bei einem künftigen Wurf mit dem Würfel erscheinen wird, dass sie bei einem vorhin stattgefundenen erschienen ist, und dass sie gegenwärtig oben liegt. In den letzten Fällen bedeutet der Nachsatz nicht etwa, dass wir diese Zahl erblicken werden, wenn wir hinsehen: denn auch wenn uns jede Möglichkeit benommen ist, jemals den Sachverhalt durch Beobachtung festzustellen, behaupten wir seine Wahrscheinlichkeit, und zwar diese bestimmte. Es gibt also WahrscheinlichkeitsAussagen, die sich ausschliesslich auf Vergangenes oder Gegenwärtiges als solches beziehen. Zuletzt haben doch gerade alle vergangenen Thatsachen nur Wahrscheinlichkeit, wenn auch eine graduell unendlich verschiedene und in den meisten Fällen nicht bestimmt messbare. Laplace hat denn auch selbst als die möglichen Fälle diejenigen bezeichnet. über deren Dasein nicht über deren Eintritt wir in

gleicher Unwissenheit sind. Er hätte vielleicht, um die Beziehung auf eine bestimmte Zeit ganz abzuschneiden, noch genauer sagen können: über deren Wahrheit.

Die obige Beschränkung ist neuerdings durch keinen Geringeren als Lotze1) ausdrücklich sanctionirt worden. Er gründet den Wahrscheinlichkeitsbegriff von vornherein nur auf das praktische Bedürfnis, unsere Handlungen mit Bezug auf künftige Ereignisse zu regeln, polemisirt gegen Laplace' Berechnung der Wahrscheinlichkeit einer gemeinschaftlichen Ursache für die nahe übereinstimmenden Richtungen der Planetenbahnen, und will die Wahrscheinlichkeit durchaus nur als Mass des Vertrauens zu dem Eintritt künftiger Ereignisse angesehen wissen.

Dem sonst so scharfen Denker sind hier wie in anderen Puncten der Wahrscheinlichkeitslehre sonderbare Misverständnisse begegnet. So viel ist gewiss, dass der mathematische Wahrscheinlichkeitsbegriff sich ohne die Beschränkung auf das Künftige ganz ebenso scharf definiren lässt, und dass er in diesem Fall nicht blos eine praktische sondern auch eine theoretische Bedeutung hat. Es könnte sich also nur etwa fragen, ob die aus einer solchen allgemeineren Fassung gezogenen Consequenzen auch mit dem gewöhnlichen Menschenverstand und Sprachgebrauch übereinstimmen: und daran kann meines Erachtens kein Zweifel sein, vorausgesetzt, dass

1) Logik (1874) S. 414. 432 f. 434. Gleiches lehrt Wundt (Logik I 393) mit der Begründung, dass sich Wahrscheinlichkeit immer auf erwartete Thatsachen beziehe; was freilich nur eine Wiederholung der Behauptung ist.

Oefters begegnet man wol auch der Wendung: alles Vergangene sei fest gegeben, und es sei sinnlos, nach der Wahrscheinlichkeit einer gegebenen Thatsache zu fragen. Aber in Wahrheit ist ja das Vergangene uns niemals gegeben, nicht anders als das Künftige. Aendern lässt es sich freilich nicht; aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung will nichts anders machen als es ist, und würde dies auch in Hinsicht des Künftigen nicht zuwegebringen.

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