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IX

Wir hatten oben (S. 46) gesehen, daß auf den Philippinen bei der Entbindung einer Frau der Gatte nur mit einem Schurz bekleidet oder völlig nackt auf das Dach des Hauses steigt. Als Grund wird angegeben, daß der „Patianak“, der Geist, der der Schwangeren nach dem Leben trachtet, eine große Scheu vor allem Nackten besitzt. 1) Wir treffen hier also in dem bei der Entbindung üblichen Brauche die uns sehr häufig im Kulte und beim Zauber begegnende rituale Nacktheit, für die Weinhold ein umfangreiches Material zusammengestellt hat.")

Mit den Geburtsgebräuchen müssen wir auch hier wieder die Riten bei Hochzeit und Tod vergleichen. Beim Hochzeitsritus ist mir kein Fall der ritualen Nacktheit bekannt, dagegen spielt sie eine große Rolle bei den Totenbräuchen, worauf schon Weinhold S. 17 hingewiesen hat. Auf einer der ältesten Dipylonvasen3) sind die Frauen, die der Leiche folgen, nackt dargestellt.4)

1) Ploß, Das Weib II, 326.

2) Karl Weinhold, Zur Geschichte des heidnischen Ritus, Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften 1896, S. 3ff. Für antiken Brauch vgl. auch die Zusammenstellungen bei Gruppe, Griechische Mythologie und Religionsgeschichte S. 896, 1 und Heim, Incantamenta magica, Jahrbuch für klass. Philologie, Suppl. 19, S. 508. Außer dem von Weinhold angeführten Material vgl. noch Krauß, Anthropophyteia I, 1: Volksglaube u. religiöser Brauch der Südslawen S. 66 f. Deubner, Archiv für Religionswissenschaft IX (1906), S. 452. Schmidt, Liebe und Ehe in Indien S. 16 ff. Crooke, Popular religion and folke-lore of Northern India I, 67 ff. Wellhausen, Reste arab. Heidentums2 S. 110. 3) Als Dipylonstil bezeichnet man nach dem Hauptfundort dieser Vasen, dem Doppeltor in Athen, den Stil der schwarzfigurigen Vasen, der im 7. Jahrhundert v. Chr. herrschend war.

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4) Monum. dell' ist. arch. IX, 39. Die obigen Bemerkungen über die Nacktheit im griechischen und römischen Trauerritual wiederholen mit einigen Ergänzungen meine Ausführungen in der Festschrift für Otto Hirschfeld S. 253 f.

Helbig bemerkte zu dieser Darstellung, schwerlich werde jemand die Behauptung wagen, daß die griechischen Frauen zu der Zeit, in der jenes Gefäß gearbeitet wurde, nackt einhergegangen seien oder daß der damalige Sepulkralritus ein derartiges Auftreten erfordert habe1), und auch Mau meint, die Nacktheit dieser Frauen sei sicher nicht dem Leben entnommen.) Allein mit Recht betont Dümmler, es liege gar kein Grund vor, daran zu zweifeln, daß in vorsolonischer Zeit3) bei der attischen Bestattung sich der alte Ritus der Nacktheit noch erhalten habe.) Zu dieser Auffassung berechtigen uns die zahlreichen Fälle ritualer Nacktheit, die uns sonst bekannt sind, so auch die Tatsache, daß man in Athen noch in späterer Zeit bei den Amphidromien, die kurze Zeit nach der Geburt eines Kindes gefeiert wurden, nackt um den Herd lief.5)

Für den römischen Trauerritus ist eine Nachricht über vollständige Nacktheit nicht überliefert, aber ein Rest davon hat sich auch hier lange erhalten. Wie Weinhold a. a. O. S. 4f. dargelegt hat, kommt als eine Beschränkung der Entblößung des ganzen Leibes die bloße Nacktheit der Füße vor. Daß diese in Rom üblich war, zeigt uns die schon vorher (S. 77) einmal erwähnte Aufbahrungsdarstellung auf dem Grabmonument der Haterier: die trauernden Frauen sind hier barfüßig dargestellt. Bestätigt wird diese Sitte der Barfüßigkeit bei der Trauer durch die Nachricht, daß die römischen Ritter bei der Bestattung des Augustus die Asche des Kaisers ungegürtet mit nackten Füßen aufsammelten. 6)

Als weitere Beispiele für die Nacktheit bei der Trauer

1) Helbig, Das Homerische Epos 2, S. 37.

2) Pauly-Wissowa, Realencyclop. III, 336.

3) Noch in der Dipylonzeit ist die Nacktheit des weiblichen Frauengefolges abgekommen. Dümmler, Philologus LIII (1894) S. 212 Brückner, Athen. Mitt. XVIII (1893) S. 102.

Vgl.

4) Dümmler a. a. O. Daß die Nacktheit der trauernden Frauen auf den Dipylonvasen die Wirklichkeit wiedergebe, nimmt auch Müller (Nacktheit und Entblößung in der altorientalischen und älteren griechischen Kunst S. 80f.) an.

5) Vgl. Samter, Familienfeste der Griechen und Römer S. 60.
6) Sueton. August. 100 (discincti pedibusque nudis).

führt Weinhold den arabischen, israelitischen und indischen Brauch an. Bei den Arabern entblößen die Weiber in der Trauer nicht bloß Gesicht und Busen, sondern zerreißen gelegentlich auch die letzte Hülle. 1) Daß auch im alten Israel die Trauernden nackt gingen, hatte Weinhold, im Anschluß an Schwally 2), aus Jesaia 32, 11 und Micha 1, 8 geschlossen. Ob in letzterer Stelle allerdings wirklich der Trauernde als ganz nackt bezeichnet wird, wie Schwally annahm, ist bestritten3), und auch bei Jesaia ist nicht mehr von einer völligen Nacktheit die Rede. Daß aber in früherer Zeit auch bei den Israeliten die Nacktheit bei der Trauer üblich war, scheint sich aus den Zeugnissen zu ergeben. Denn der Sak, den der Trauernde anlegt, war wahrscheinlich ursprünglich nichts anderes als ein Lendentuch1), dessen Anlegung statt der sonstigen Gewänder nur eine geringe Abschwächung der gänzlichen Nacktheit ist. Ebenso ist jedenfalls auch das Barfußgehen, das, wie zum römischen, auch zum israelitischen Trauerritus gehört 5), als Abschwächung der ursprünglichen Nacktheit aufzufassen. Einen anderen Rest der einstigen gänzlichen Entblößung lernen wir aus dem Talmud kennen: es war bei den Juden in Palästina üblich, zum Zeichen der Trauer den Arm und die Schulter zu entblößen.")

1) Wellhausen, Reste arabischen Heidentums 2 S. 195.

2) Schwally, Das Leben nach dem Tode nach den Vorstellungen des alten Israel S. 11.

3) Vgl. Nowack, Hebräische Archäologie I, S. 193.

4) Nowack a. a. O.

5) Micha 1, 8. Ezech. 24, 17. 23. Frey, Tod, Seelenglaube und Seelenkult im alten Israel S. 45 sieht in dem Ablegen der Sandalen und ebenso (S. 41) in der zerrissenen Gewandung und der Sakbekleidung nur den Ausdruck einer tiefen Selbsterniedrigung und Demütigung, eine Erklärung, die für das Ritual einer so alten Zeit viel zu hochgegriffen ist.

6) Büchler, Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft XXI (1901), 81 ff. Büchler meint (S. 90), die Schulter sei die Trägerin schwerer Lasten, so daß ihre Entblößung die Bereitwilligkeit des Trauernden, dem Toten die schwersten Arbeiten zu leisten, ausdrücken würde, wobei er nicht berücksichtigt, daß die Entblößung der Schulter und des Armes nicht von den anderen Entblößungen bei der Trauer getrennt werden

Sehr bemerkenswert ist der von Weinhold1) mitgeteilte nordindische Brauch. Am Ende des Jahres, in dem ein Familienglied gestorben ist, tanzt der nächste männliche Verwandte nackt mit einem bloßen Schwerte in der Hand einen ganzen Tag und eine Nacht zum Trommelschlage. Hier gesellt sich zur Nacktheit die Waffe und der Lärm, d. h. zwei Mittel der Dämonenabwehr. Zu Weinholds Zusammenstellungen seien hier noch einige Ergänzungen hinzugefügt. Bei den Mpongwes in Westafrika, einem Stamme, der sonst Kleider sehr liebt, tragen die Frauen in der Trauer so wenig Kleider wie möglich, die Männer überhaupt keine.) Bei den Ewheleuten in Togo müssen die Gatten während der Trauerzeit völlig entblößt gehen. Auch der Jäger, der ein Tier getötet hat, muß sich vor dem Geist des Tieres durch Sühnzeremonien schützen und darf dabei mehrere Tage keine Kleider anlegen.3)

Sehr verschiedene Erklärungen sind für die rituale Nacktheit und im besonderen für die Nacktheit bei der Trauer aufgestellt worden. Müller1) nimmt an, daß die athenischen Frauen der vorsolonischen Zeit unbekleidet klagen, wie wenn sie sich dem Toten preisgeben sollten, um seine Seele den Überlebenden gnädig zu stimmen. Es sei dies im Grunde nur eine Parallelerscheinung zu den nackten Figürchen, die dem Toten ins Grab mitgegeben wurden 5), und dieselbe Deutung wie für die unbekleideten Klageweiber könne auch dort gelten, wo wir die Nacktheit der Frauen im Götterkulte treffen. Denn was den Toten recht, sei natürlich den Göttern billig gewesen. Ihnen gebe sich auch bei den Griechen die Jungfrau hin, wovon letzte Spuren in dem tatsächlichen

darf. Jastrow (in derselben Zeitschrift XXII [1902], 117) deutet die Sitte richtig als Rest der gänzlichen Entblößung. Über seine sonstigen Ausführungen vgl. weiter unten.

1) a. a. O. S. 17 (nach Crooke, Introduction to the popular religion of Northern India 111.)

2) Frazer, Journal of the Anthropolog. Institute of Gr. Britain and Ireland XV, 98.

3) Klose, Globus LXXXII (1902), S. 190 f.

4) Müller, Nacktheit und Entblößung in der altorientalischen und

älteren griech. Kunst S. 82.

5) Müller a. a. O. S. 77f.

oder symbolischen Beilager mit dem Xoanon eines Gottes oder im Tempelschlaf erhalten sei. Auf die Frage nach der Preisgabe der Jungfrauenschaft im Kulte, der wahrscheinlich ursprünglich eine andere Vorstellung als die einer Gnädigstimmung der Gottheit zugrunde gelegen hat 1), brauche ich hier nicht einzugehen, für die nackten Frauenfiguren, die ins Grab mitgegeben werden, mag Müllers Deutung zutreffen.) In bezug auf die Nacktheit der Trauernden aber ist seine Erklärung sicher unrichtig. Zunächst kann in der Nacktheit beim Begräbnis schwerlich schon eine Hindeutung auf eine geschlechtliche Preisgebung gesehen werden, mit den ins Grab mitgegebenen Figuren steht es anders, denn was dem Toten mitgegeben wird, ist natürlich zur Benutzung für ihn bestimmt. Dann aber und dies ist das Wesentliche geht diese Erklärung nur von einem einzelnen Falle eines einzelnen Volkes aus, der Nacktheit der Frauen beim athenischen Begräbnisse. Sie wird daher widerlegt dadurch, daß, wie wir vorher sahen, die Nacktheit bei der Trauer sonst auch bei den Männern üblich ist; für griechische Sitte ist dies - vielleicht nur zufällig —— nicht ausdrücklich bezeugt, daß aber den Griechen die rituale Nacktheit auch der Männer nicht fremd war, lehrt uns die schon oben erwähnte Nachricht, daß bei den Amphidromien auch die Männer nackt um den Herd liefen.

Weinhold3) meinte, der nackte Mensch versetze sich in den Zustand des noch nicht bekleideten, von dem Leben noch nicht befleckten Kindes. Er nähere sich aber andererseits den göttlichen Wesen, besonders der unteren Stufe, welche eine Vermittlung zwischen Erde und Himmel bilden und mit den vom Leibe getrennten Seelen zusammenhängen. Wer also eine über menschliche Kraft reichende Handlung vollziehen wolle, den Göttern gleich wirken wolle, versetze sich in ihre Er

1) Vgl. Nilsson, Griechische Feste S. 366 f. Fehrle, Die kultische Keuschheit im Altertum (Heidelberger Diss. 1908) S. 41 f.

2) Sehr deutlich ist der ägyptische Brauch: Erman, Die ägyptische Religion S. 146. Vgl. aber auch Karo, Archiv f. Religionswiss. XII (1909), S. 360.

3) a. a. O. S. 5.

Samter: Geburt, Hochzeit und Tod.

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