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I.

Zur Orientirung.

„Alles ist in ewigem Flusse.

Heraklit.

„Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln,
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in Allen,
Denn Alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will,

Goethe.

Mit großem Interesse habe ich bei den modernen Physikern die

Resultate der Berechnungen gelesen, aus welchen sich ergibt, welch colossale Menge von Calorien unsere Sonne alljährlich in den ungeheueren Weltenraum verstrahlt und welch verschwindend kleiner Theil derselben den sie umtanzenden Planeten, speciell unserer kleinen Erde zu Gute kommt. Diesen Luxus, den unser Tagesgestirn im Großen treibt, fühlen wir Menschen uns veranlaßt bei allen unseren Erwärmungsvorrichtungen, soviel in unseren Kräften steht, nachzuahmen und so jagen wir denn lustig und ohne Gewissensscrupel eine Menge von in Holz oder Steinkohle gebundenen Wärmeeinheiten durch unsere Schornsteine hinaus, um mit dem kleineren Theile einen nüzlichen Effekt zur Erwärmung unserer Zimmer, Bereitung der Speisen, Bewegung der Maschinen. auszuführen. Besonders klug ist diese Verschwendung nicht, weder von der Sonne, noch von den Menschen, wie mir eines Tages klar wurde, als ich einem Gärtner half, Aeste von den Bäumen abhauen. Mit Verwunderung sah der Mann mir zu, wie ich die Art handhabte und dabei ächzte, stöhnte, keuchte, schwigte, gar manchmal daneben hieb und endlich triumphirend auf das Resultat meiner Bemühungen, einen am Boden liegenden knorrigen Baumast hinwies. „Wenn wirs so machten, sagte er lächelnd, dann wären wir in einer halben Stunde mit unserer Kraft zu Ende und vermöchten nicht den ganzen Tag zu arbeiten !"

Ich wollte ein psychologischer Mayer, Joule oder Tyndall stellte einmal eine Berechnung an, wie viel Geisteskraft die Menschheit nur seit den paar Jahrtausenden ihres historischen Bestehens verschwendet hat und wie groß oder klein im. Verhältniß dazu der nüßliche Effekt

die wahre geistige Förderung des Menschen gewesen ist. Ich glaube die dabei sich ergebenden Resultate würden uns durch die Ungeheuerlichkeit der Ziffern in ebenso stummes Erstaunen versehen, wie dort bei der Wärmeberechnung. Ja ich habe den Verdacht, wenn die Berechnung sich nur z. B. auf das literarische Gebiet beschränkte und zu dem Resultate gelangte, daß seit Erfindung der Buchdruckerkunst auf eine Million geschriebener und gedruckter Bände etwa eine Octavseite neuer und nüßlicher Wahrheiten komme, die lehtere Ziffer als zu hoch gegriffen angesehen werden dürfte. Nun rechne man noch hinzu, wie viel mittheilungswürdige Weisheit aus Mangel an Zuhörern unausgesprochen, wie viel mündlich vorgetragene Belehrung aus Mangel an literarischer Bildung ungeschrieben, wie viel werthvolle Manuscripte aus Mangel an Verlegern ungedruckt geblieben sind, und der Kopf wird Einem schwindeln über die dabei sich her= ausstellenden Größen, für welche sogar astronomische Maßstäbe und Zahlen als kaum ausreichend gedacht werden können!

Und worin und wodurch hat denn vorzüglich jene Kraft und Geistesverschwendung stattgefunden? Das wäre doch interessant zu wissen; denn Ersparungen auf diesem Gebiete und Concentration der Kraft auf die richtige Stelle müßten doch der Menschheit in viel höherem Maße zu Gute kommen, als selbst die ingeniösesten Vorrichtungen zur Wärmeersparniß. Ich will die Frage mit Einem Worte beantworten: In dem System und durch das Systematisiren. In der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Dinge, welche uns umgeben, deren Zusammenwirken unser eignes Wesen beständig modificirt und den schon unergründlichen Mikrokosmus, Mensch ge= nannt, tagtäglich noch mehr complicirt, sind einzelne gesunde Auffassungen, deutliche Wahrnehmungen jederzeit möglich: die Lösung und Erklärung des Ganzen aber, wenn überhaupt erreichbar, einer

Zukunft vorbehalten, von deren Fernen wir, die wir uns doch gewöhnt, in weite Tiefen der Vergangenheit den Blick zu senken, kaum eine Ahnung haben. Darum haben auch die größten Geister, deren leuchtenden Gedanken die Menschheit die mächtigste Förderung verdankt, von jeher eingestanden, daß unser Wissen Stückwerk ist. Sie waren es auch, welche ihre Blicke dem Thatsächlichen zuwendend, darin die wahre Erleuchtung suchten und, weit entfernt, die gefundenen Wahrheiten zu einem geschlossenen Ring zusammenzuschmieden, dieselben nur anwandten, um das Unzureichende, Verkehrte und Baufällige der herrschenden, allgemein anerkannten Systeme nachzuweisen.*) Ich erwähne hier nur Sokrates, den Weisesten des Alterthums, Luther, den Erneuerer des christlichen Gedankens und unseren Lessing, den Begründer der modernen Aesthetik. Gerade der Lettere ist ein recht anschauliches Beispiel. In seinem Laokoon, in seiner Hamburgischen Dramaturgie sind die tiefsinnigsten Bemerkungen über das Wesen des Schönen und der Kunst, ein paar Duhend Systeme ließen sich daraus herleiten, und doch traten sie in diesen Werken nur als Einzelurtheile über bestimmte Kunstwerke und Dramen auf.

Besonders starke Systematiker sind die Franzosen. „Ecoutez, j'ai mon système" ist eine ganz gewöhnliche Aeußerung in der Unterhaltung. Eine glückliche Vergleichung wie die des Staates mit einer Pyramide, eine wahre Unterscheidung wie die zwischen welt= licher und geistiger Macht u. A. werden sofort zur geheimnißvollen Formel, um die Welt zu erklären und zum Schiboleth einer neuen Schule oder Gemeinde, der die Zukunft gehört. Wer nennt sie alle

die Fourierismus, St-Simonismus, Positivismus 20. — welche in dem lezten Jahrhundert auf diesem fruchtbaren Boden emporgeschossen sind, jede mit dem Anspruch in das Welträthsel eingedrungen zu sein und die Beglückung des Menschengeschlechts in der

*) Montaigne, der Zweifler, ist vielleicht der bedeutendste französische Schriftsteller, Hamlet und Faust, die Zweifler, jedenfalls die bedeutendsten modernen Dichtungen.

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