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VI.

Der Ursprung des Lebens.

So schauet mit bescheidnem Blick
Der ewigen Weberin Meisterstück,
Wie ein Tritt tausend Fäden regt;

Die Schifflein herüber hinüber schießen,

Die Fäden sich begegnend fließen,

Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.
Das hat sie nicht zusammengebettelt,
Sie hat's von Ewigkeit angezettelt.

Goethe.

Ich habe es im dritten Abschnitte als das größte, staunenswertheste Wunder bezeichnet, daß es Wesen gibt, organische nennen wir sie, welche die Fähigkeit haben, sich selbst zu erneuern. Einmal solche Wesen angenommen, ist der Menschengeist nicht mehr das große Räthsel; auf dem Wege allmählicher Differenzirung läßt sich der Fortschritt zum Vollkommneren und darum Mächtigeren leicht begreifen. Die Entstehung aber des primitiven, unvollkommenen Lebens, dessen Formen doch überall im Trocknen, Kalten, Warmen, Feuchten in ungeheuerer Menge vorhanden sind und welche jene wunderbare Eigenschaft, die Pforte. zu jeder Weiterentwicklung, in sich tragen, ist ein Räthsel, dessen Lösung bis jezt auch nicht einmal durch eine Hypothese versucht wurde.

Der Weg, den die Wissenschaft in unseren Tagen zu ihrem Heile eingeschlagen hat, ist der, daß sie das Vollkommenere aus dem Unvollkommeneren, die Complex-Erscheinungen aus dem Einzelleben der Individuen zu erklären sucht; es ist ein deductives Verfahren, welches dem philosophischen Denken immer verstattet ist und das sich auch stets einstellt, wenn die Induction eine genügende Menge neues, thatsächliches Material zu Tage gefördert hat.

Es ist aber zweifellos, daß auch die vollkommneren Formen. und die complexen Erscheinungen in ihrer Lebensentwicklung uns Aufschluß über die unvollkommneren und einfacheren Formen zu geben im Stande sind. Denn die summirten Wirkungen

können unmöglich etwas anderes, als das Resultat der einzelnen Wirkungen sein und so müssen lehtere — auffälliger und verständlicher uns in den ersteren entgegentreten. Und in den complexen Lebensformen müssen wir in ungeheuer vergrößertem Maßstabe die ursprünglichen Entwicklungsformen wiederfinden, aus welchen sich die ersteren combinirten. Wie die Einzelzelle sich ursprünglich erneuerte, da sie allein und selbständig in den ernährenden Medien lebte, so erneuert sie sich auch als Theil des kunstvoll gegliederten Organismus, so erneuert sich aber auch dieser Organismus als Monade, Einzelleben aufgefaßt indem an seine Stelle andere ihm gleiche oder ähnliche treten. Diese Eigenschaft besäße er nicht, wenn er sie nicht von dem primitiven Leben überkommen hätte.

Ein schönes Beispiel, wie sich die Geseze und Eigenthümlichkeiten des individuellen Lebens in den complexen d. h. zusammengesezten Lebensformen ausprägen ist die Rohmer'sche Parteienlehre. In geistvoller Darstellung wies dieser bedeutende Mann nach, daß die ungebundene, leidenschaftliche, des folgerichtigen Denkens und Handelns noch unfähige Knabennatur in der radicalen Partei, das schwache, verzagende, launenhafte, eigensinnige Greisenalter im Absolutismus, die ideale, thatendurstige, feurig empfindende Jünglingsnatur dagegen im Liberalismus, das ernste Führen des Lebens und die energische Bewältigung der Lebensaufgaben durch Arbeit, wie sie dem Mannesalter eigen sind, in der conservativen Partei zum Ausdruck kommen.

Dieses lehrreiche Beispiel verdient, daß wir bei demselben verweilen; es wird uns manche Aufklärung über das Princip der Entwicklungslehre geben, sowie über die Methode, die uns auf allen Gebieten am sichersten zu erfolgreicher Anwendung desselben leiten kann. „Die Menschennatur ist überall und alle Zeit dieselbe." Das ist ein oft wiederholter Sah, und er ist ebenso richtig, als der andere, daß es keine zwei Menschen auf der Welt gibt, die einander vollkommen gleich sind. Unzweifelhaft ist aber, daß eine Vielheit von einzelnen Fällen in Betreff der charakteristischen Eigenthümlichkeiten

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der menschlichen Natur eine immer größere Klarheit und Gewißheit ergeben muß, welche Eigenschaften als individuelle, welche als nationale, welche als generelle anzunehmen sind.

Das individuelle Leben spiegelt aber im Kleinen alle die nationalen und generellen Eigenschaften mehr oder weniger getreu und reichhaltig d. h. charakteristisch. Das ist ein „echter Franzose, ein richtiger Engländer" sagen wir, wenn uns die nationalen Besonderheiten in einem Individuum gleichsam typisch ausgeprägt entgegen treten. Generelle Züge sind natürlich zu allen Zeiten dieselben und wie Horaz die vier Lebensalter vom Knaben an, der

sich leicht erbost durch Nichts, läßt durch ein Nichts
Gleich wieder sich besänft'gen und verändert

Wie ein Apriltag sich von Stund zu Stunde,

bis zu dem difficilis, morosus, laudator temporis acti schilderte, so passen sie noch heute unverändert auf die große Durchschnittszahl der Menschen.

Es concentriren sich aber auch die individuellen Eigenthümlichkeiten und gewinnen Gestalt, Form und Wirklichkeit in dem Gemeinleben der Menschen. Montesquieu sagt einmal: „Bei der Entstehung der Gesellschaften sind es die bedeutenden Männer, welche denselben Form und Eigenthümlichkeit verleihen; in der Folge aber ist es die Gesellschaft, welche den bedeutenden Männern Eigenthümlichkeit und Richtung verleiht." Das heißt doch wohl nichts anderes, als daß die Summe der Individualitäten in dem Gemeinwesen sich so fest und dauernd ausgeprägt hat, daß auch das mächtige Individuum nur nach der bestimmten Weise sich bilden und entwickeln kann.

Wir haben also und dieses sind die Angelpunkte der Entwicklungslehre sowohl von dem Einzelwesen Aufschluß über Leben und Eigenschaften des Gesammtorganismus zu erwarten; als auch die ungeheuer vergrößerten und durch Summirung ungemein ge= steigerten Züge des individuellen Lebens uns aus dem Leben der großen Gemeinschaften zu verdeutlichen.

Wenn wir z. B. die Eigenschaften des Knabenalters

nach

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