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urälteste Andacht, welche erweckt wird beim Aufsteigen der Sterne, die geheimnißvolle Ahnnng unseres dunkeln Ursprungs aus den Naturgewalten. Unzählige Gegensäße weben und wirken hin und her zwischen Verstand und Gemüth. Das kränkliche, häßliche, mißachtete Kind, das Kind, welches mit unsäglichen Schmerzen und Nachtwachen erkauft - es ist der Mutter das theuerste. Der geschmähte, ge= schändete, gelästerte, verfolgte religiöse Glaube mit immer tieferen Wurzeln hat er sich in die tiefen Gründe des Gemüths eingegraben: dem Gotte, der sein auserwähltes Volk unter dem Druck, dem Haß, der Verachtung der Fremden im Stiche ließ, ihm sang dieses nämliche Volk mit Begeisterung: „Es ist kein Gott, wie unser Gott!" An das Leben, an die Vergangenheit, an die Gräber der Verstorbenen, an den wankenden Thron, an die zerfallenden Altäre bindet den Menschen mit tausend Banden die Macht des Gemüths. Der Verstand kann das ihm werthlos erscheinende Leben wegwerfen, das Gemüth vermag das im Glanze der eigensten Seelenwärme lieblich schimmernde Leben einzusehen und aufzuopfern für ein höheres Gut, es vermag getreu zu sein bis in den Tod.

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An diesen Gegensatz von Denken und Gemüth schließt sich ein anderer, mit demselben vielfach verwachsener, ja analoger, der namentlich in dem Gebiete der Sprache, der Ethik, wie des politischen Lebens zu großer Bedeutung gelangt, nämlich der Gegensah von Physis und Thesis oder Natur und menschlicher Sazung oder auch Wesentlichem und Zufälligem.

Eigentlich gehört die lettere mehr dem menschlichen Denken an; wie denn z. B. in dem sittlichen Leben des Menschen gar oft das Denken irreleitet, menschlichem verkehrtem Urtheile unser Handeln unterordnet, während uns die natürliche Stimme sagt, daß wir anders handeln sollten. Es ist alsdann das dunkle Gefühl, die Macht des Gemüths, welches sich gegen die durch das Denken ausgeflügelte gesellschaftliche Verpflichtung auflehnt; es ist der einfache, unverfälschte Naturtrieb, welcher rasch und sicher das Richtige ergreift, während der in tausend Rücksichten und Erwägungen sich verirrende Wille

des hochgebildeten Culturmenschen oft gegen die nächsten und natürlichsten Verpflichtungen sich verfehlt und so sich des Dichters Wort bestätigt:

Was kein Verstand der Verständigen sieht,

Das übt in Einfalt ein kindlich Gemüth.

Dieser Gegensah wird größere Verständlichkeit gewinnen in den folgenden Abschnitten, wo ich von dem unbewußten Leben und der ethischen Entwicklung des Menschen reden werde, wie er denn auch selbst dem Abschnitte über den Idealismus als Voraussetzung dient.

Man kann sich den Gegensah von Physis und Thesis am Klarsten machen durch irgend ein Beispiel aus dem Sprachleben. Der Begriff des Sehens ist bei allen Sprachen durch ein Wort ausgeprägt; dieses Wort ist aber seiner Lautform nach in den verschiedenen Sprachen sehr verschieden. Das Vorhandensein des Begriffs, das Bewußt werden desselbenund Fixiren durch ein Wort erscheint demnach nothwendig, natürlich, zum Wesen des Menschen gehörig, d. i. Physis; die Form des Wortes als lautliches Gebilde dagegen zufällig, mehr von der Willkür oder nicht direkt dem Begriff entstammenden Verhältnissen abhängig, es ist mehr Thesis. Wenn nun die Erfahrung bestätigt, daß aus dem Begriffe sehen bei allen Sprachen der Begriff wissen sich ableitet, so ist dies wieder etwas Natürliches, Nothwendiges, Physis: Daß dagegen das Lateinische scio sich aus der Wurzel, die dem deutschen schauen zu Grunde liegt, das deutsche Wissen von der Wurzel von video herleitet, das ist wieder etwas scheinbar von Zufällen Abhängiges, es ist Thesis.*)

*) Ich bitte mich hier nicht mißzuverstehen. Gewiß ist die Bildung dieser Worte auch durch unwillkürliches Sprachwerden, also Physis, entstanden. Ich wollte nur den Gegensaz des Wesentlichen oder scheinbar Zufälligen auf einer frühen Stufe nachweisen. Wer sich die äußersten Gegensäße von Physis und Thesis vorstellen will, der möge sich einerseits die Worte Laplace's vergegen= wärtigen: Ein Geist der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kännte, welche in der Natur wirksam sind und die gegenseitige Lage aller Wesen, aus denen sie besteht, würde die Bewegungen der größten Weltkörper und des leich= testen Atoms begreifen; nichts wäre ungewiß für ihn, und Zukunft wie Ver= gangenheit wäre seinem Blicke gegenwärtig. Das astronomische Wissen bietet

(Geiger.) Die Frage, ob die Sprachen unmittelbares Naturwerden oder aus der bewußten Absichtlichkeit der Menschen hervorgegangen seien, hat von jeher die Denker beschäftigt; eine nur einigermaßen ernste Betrachtung muß ergeben, daß dieses größte Wunder der Menschheit fast nur als ein Naturprodukt angesehen werden darf, daß der bewußten Schöpfung nur eine verschwindend kleine Stelle zukommt.

Abstractionen, Systeme, conventionelle Schönheiten in der Kunst, viele gesellschaftlichen Formen und Vorurtheile, staatlicher Mechanismus, Schablone und Phrasenthum in der Literatur, inhaltsleere Ceremonien und äußere Werkheiligkeit in dem religiösen Cultus, Privilegien bevorzugter Stände, Zunstwesen und tausend andere Dinge müssen wir in die Kategorie der Thesis einbegreifen; d. h. wir nennen sie willkürliche, menschliche Sagungen. Alle diese Dinge waren ursprünglich so gut Naturerzeugnisse, wie alles Andere, sie gehören aber einer früheren Entwicklungsstufe an und die fortge= schrittene Cultur hat sie des Lebensfastes, des harmonischen Zusammenklangs mit den mittlerweile erstarkten und selbständig fortgebildeten anderen Theilen beraubt. Das Wort, welches einst aus der Tiefe des Gemüths in lebenswarmer Triebkraft hervorsproßte, es ist heute inhaltsleere Phrase, das Gesetz, welches früher den Verhältnissen angepaßt heilsam und fördernd sich erwies, es steht heute in Widerspruch mit dem ganzen Lebensinhalt der Zeit, das Pflichtgebot welches in uralter Zeit den Arm des Menschen mit dem Opfermesser bewaffnete, um den Feind oder gar den eigenen Sohn seinen Göttern darzubringen, die heutige Menschheit wendet sich mit

ein schwaches Abbild solcher Erkenntniß." Dagegen halte er die bekannte Bemerkung, daß an dem spanischen Hofe Alles dermaßen durch die Etikette geregelt war, daß man mit astronomischer Gewißheit auf hundert Jahre voraussagen konnte, was die spanischen Könige in jeder Stunde des Tages thun würden, so wird er dort die ganze Welt als Physis, hier die kleine Welt als pure Thesis aufgefaßt finden. Wer diesen Gegensaß für die Pädagogik verwerthet wissen möchte, der wird vielleicht zu dem Resultat kommen, daß es viel, viel mehr ist, wenn der Schüler weiß, wann und wie Eine Stadt gegründet wird, als wenn er die Namen von zweitausend Städten kennt, und wenn er weiß, was Ein Cäsar gewesen ist, als wenn er deren hundert an den Fingern herzählen könnte.

Grausen davon ab

diese und viele andere Dinge erscheinen uns heute als willkürliche, der Natur und Vernunft widersprechende Sahungen.

Der Gegensah tritt aber erst dann hervor, wenn die unteren Schichten, die tieferen Harmonieen, das unbewußte Leben herangewachsen sind und nun das einseitig Ausgebildete, das Ueberfeinerte in Denken und Empfinden, die Exclusivität bevorzugter organischer Theile nicht mehr mit der Totalität des Organismus harmoniren kann. Das Aufblühen des Bürgerthums im Mittelalter, sein Widerstand gegen die Adelsgeschlechter und Fürsten, die Reformation, die Sturm- und Drangperiode in der deutschen Literatur, die französische Revolution, sie waren alle stürmische Kämpfe der Physis gegen die Thesis. Werthers Gefühlsprotestation gegen die gesellschaftliche Zwangsjacke, Faust's Verzweiflungsqualen über den methodisch langsamen Gang und den abstracten Formelkram der Naturforschung, was sind sie anders als dichterisch verklärte, typische Gestalten dieses inneren Drangs, der des Ursprünglicheren, Einfacheren, Aelteren bewußt wird und nun eine neue Welt der Ausgleichung und Gleichberechtigung gründen will auf den Trümmern des Ausgelebten und Ueberlebten?

XI.

Das Unbewußte.

Sie suchen das Nothwendige der Natur aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen sie Schritt vor Schritt zu der mehr entwickelten hinauf, um endlich den verwickeltsten von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erschaffen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen.

Schiller an Goethe 23 August 1794.

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